Archiv der Kategorie: Psychopharmaka

Hohe psychische Belastung bei IT-Technikern

Ständige Schlafstörungen sind besonders in der IT-Branche ein vernachlässigtes Problem. Das berichten indische Forscher um Sara Sarrafi Zadeh von der Universität Mysore in der Zeitschrift „Applied Research in Quality of Life“. Bei 35 Prozent der 91 IT-Techniker eines untersuchten Unternehmens konnten sie leichte, bei 21 Prozent schwere chronische Schlafprobleme feststellen. Die körperliche und psychische Verfassung der Untersuchten und ihre subjektive Lebensqualität stimme oft mit der Schlafqualität überein.
Dass sich das Problem nicht nur auf Indiens IT-Spezialisten beschränkt, betont Anja Gerlmaier vom Institut für Arbeit und Qualifikation IAQ der Universität Duisburg . Gerlmaier hat erst kürzlich mit Kollegen eine Studie zum Gesundheitszustand in der IT-Branche präsentiert und dabei besorgniserregende Zustände dokumentiert. „Die Schlafstörungen schienen auch in unserem Sample auf, wobei ein starker Zusammenhang zu Stress und zum Burnout-Syndrom besteht“, so die Expertin im pressetext-Interview.
Besonders die hochbeanspruchten IT-Techniker schlafen laut der deutschen Studie bei 331 Untersuchten schlecht – und zwar 54 Prozent von ihnen, womit dieses Problem häufiger ist als Rückenschmerz (46 Prozent),  Konzentrationsstörungen (45 Prozent), Magenleiden (35 Prozent) und Tinnitus (30 Prozent). Bei weniger beanspruchten IT-Technikern hat jeder fünfte Schlafstörungen, wobei Rücken- und Konzentrationsprobleme gleich oft vorkommen. Insgesamt ist jeder Vierte jeden Morgen müde und zerschlagen, jeder Dritte denkt ständig, er werde die Arbeit auf Dauer nicht durchhalten und 40 Prozent fühlen sich jeden Tag bei Arbeitsende „verbraucht“.
Dahinter steckt die enorme Stressbelastung, ist Gerlmaier überzeugt. „IT-Techniker sind mit ungeplanten Arbeiten, nicht realistisch kalkulierten und parallelen Projekten und teils kritischen Kundensituationen konfrontiert. Zudem macht ihnen auch die Virtualisierung der Arbeit zu schaffen. Sitzen die direkten Vorgesetzten in Texas, können sie diesen gegenüber eine zu hohe Belastung viel schlechter signalisieren.“ Die dauernde Anspannung sorgt für einen ständig hohen Adrenalinspiegel, wobei der Körper mit dem Abbau des Hormons nicht nachkommt. „Die Folgen sind Unruhe, Unfähigkeit des Abschaltens und der Erholung sowie erschwertes Einschlaf- und Durchschlafen.“

Die indischen Studienautoren schlagen vor, dass das richtige Schlafverhalten stärker in Lebensstil-Empfehlungen für die IT-Branche eingehen soll. Gerlmaier ist skeptisch. „Das Gesundheitsverhalten der IT-Techniker ist viel besser als beim Rest der Erwerbsbevölkerung. Sie rauchen selten, betreiben Sport und achten ohnehin mehr auf ihren Schlaf als andere.“ Kritik übt die Expertin jedoch auch an gängigen Präventionsangeboten. „Massagen, Yoga oder Stressprävention sind zwar gut, doch häufig sollen sie dem Mitarbeiter nur weismachen, er solle Belastungen als Herausforderungen sehen. Oft ist das eine Bagatellisierung.“

Eher werde man dem Problem durch konkrete Schritte einer Belastungsminderung gerecht. „Dazu gehört die Arbeitsgestaltung, jedoch auch die Beschränkung des Multitaskings. Günstig wäre, an höchstens zwei Projekten gleichzeitig tätig zu sein. In stressigen Übergangsphasen sollte man eigene Zielsetzungen überdenken und delegieren, da gerade Nebentätigkeiten viel Zeit fressen“, so Gerlmaier. Entscheidend sei jedoch auch eine gute Pausenkultur, zu der etwa gemeinsames Kaffeetrinken und Mittagessen beiträgt, sowie positive Freizeiterlebnisse. „Gerade bei Dauerstress verzichten viele auf Pausen. Das verschlimmert die Situation jedoch nur.“
Seien die Probleme auch ähnlich, könne man laut Gerlmaier die Arbeitssituation indischer IT-Entwickler dennoch nicht auf europäische Verhältnisse übertragen. „In Indien sind Großraumbüros mit fabriksmäßigen, unflexiblen Arbeitszeiten die Regel. Bei uns dominiert die Orientierung am Projekt und Arbeitstage dauern schon mal von 8 bis 22 Uhr, wenn es drängt.“ Viele deutsche Entwickler sind unter der Woche beim Kunden tätig. „Die oft vermutete Autonomie und Freiheit in der Arbeitszeit gibt es nicht, da Entwickler die anfallende Arbeitsmenge kaum beeinflussen können“, so die Expertin für Arbeitszeit und Arbeitsorganisation.

In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Habe soeben einen Artikel gefunden, den ich euch nicht vorenthalten möchte.
Nein ich will, dass alle lesen, was geschrieben steht…
Besonders gefallen tut mir:

Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Kommerz vor Kunst kommt. In der Erfolg wichtiger ist als Menschlichkeit, in der geschäftliche Rafinesse mit Intelligenz gleichgesetzt wird und in der nicht Erfahrung sondern Linientreue zählen. Ich möchte in keiner Gesellschaft leben, in der „Der Kunde ist König“ wörtlich genommen wird und sich Dientleister wie Bauern im 16.  Jahrhundert ihren Feudalherren beugen sollen, ohne das diese Praxis zumindest von den Betroffenen selbst als fragwürdig  empfunden wird.

Wenn man Ende 20 länger als für einen Moment, den andere kollektiv für´s vielbeschworene Gemeinschaftsgefühl nutzen,  überlegt, ob man das alles den Rest seines Lebens erträgt, dann hat man entweder Depressionen oder einfach die Schnauze voll  von einem „System“, an dessen Implementierung man etwa so viel Zutun hatte, wie der eigenen Geburt.

Mal aus dem Nähkästchen geplaudert: Ich allein KENNE in meinem Bekanntenkreis 6 Leute, die Therapien gebraucht haben, weil sie depressiv waren oder zumindest Hilfe gesucht haben. Die viel zitierte Dunkelziffer… keine Ahnung! Aber dieser Trend ist beängstigend und da hat keiner ein Familienmitglied verloren, oder spielt wöchentlich vor zigtausend Menschen Fußball.

Nein, die Leute sind einfach auf. Fertig, weil sie immer funktionieren müssen. Weil es keine Schwäche geben darf, weil sonst  jemand anders den Job macht, der belastbarer ist. Aspiranten gibt´s genug, das Aspirin wird knapp. Und wenn es nicht der Job ist, dann die Kohle. Man verdient 3.000 brutto und hat am Ende 400 zum leben. Warum? Weil man studieren wollte und nebenbei nicht arbeiten konnte. Oder, weil die Nebenkostenabrechnung mal eben so bei 800 EUR+ ansetzte. Dazu kommt, dass die Karre kaputt ist, man ins Krankenhaus musste. Oder die Partnerschaft zerissen ist, was Neukauf von Möbeln, Umzug etc. bedeutet…

Da tanzt man auch nicht ständig nackig über ne Blumenwiese und pfeift „Oh wie ist das schön!“. MAN, die Leute haben Existenzängste. Und das in einem Land, dass als Global Player beim Export mitspielt. Was wir vorallem exportieren? Gefühlt sind es Arbeitsplätze, aber was weiß ich schon? Aber warum zum Henker geht es einigen denn so schlecht? Oder zumindest nicht sooooooooooooo gut? Weil es einigen wenigen nie gut genug geht.

http://totalerscheiss.wordpress.com/2009/11/24/in-welcher-gesellschaft-wollen-wir-leben/

In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Nicht so einfach zu beantworten. Die ganze Wut auf’s System sitzt tief. Die Anzahl der Leute am Rande, von Armut bedroht oder betroffen wächst. Das System hat viele abgehängt oder sie haben sich selbst vom System verabschiedet, oder zumindest das Vertrauen gehörig verloren. Auch wenn du in der glücklichen Lage bist (noch) keine Depression zu haben, oder bei dir die Medikamente gut wirken, trotzdem ist doch die Überlegung interessant, welche die Initiative Grundeinkommen
aufwirft:
(für allgemeine Infos über die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens und die Situation in anderen Ländern, siehe auch hier)

Was würden Sie arbeiten, wenn für Ihr Einkommen gesorgt wäre?
Würdest du denselben stupiden Job mit dem nörgelnden Chef weiterhin Tag für Tag ertragen, dich hinschleppen, Medikamente schlucken, nur damit du es weiterhin aushälst, nur damit du durchhälst?
Oder würdest du deine Lebenszeit nicht eher nutzen für Arbeiten, die dir wirklich Spass machen? Eine Betätigung, die dir Befriedigung bringt, und ethisch/moralisch ok ist, ja schlicht für dich stimmt, deinen Fähigkeiten und Belastbarkeit angepasst.

Was hiesse dies für unsere Gesellschaft, wenn die Mehrheit der Leute etwas anderes arbeiten würden, wenn für Ihr tägliches Einkommen gesorgt wäre? Ist unser (sozial)-(neo)-kapitalistisches System nicht schon selbst dabei, sich ausser Kraft zu setzen? Es braucht noch ein wenig Zeit – die Mächtigen und Korrupten stützen ihren Unterdrückungsmaschinerie -, aber die Auflösung eines Systems beginnt immer in den Köpfen der Menschen.

Ritalin boomt: 8x Absatz in einem Jahrzent

Der Absatz von Ritalin-Präparaten hat sich in einem Jahrzehnt verachtfacht. Nun wollen Politiker wissen, warum.

Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom – oft «Zappelphillippe» genannt – werden mit Ritalin und verwandten Produkten behandelt.

Der Boom der drei Medikamente Ritalin, Concerta und Medikinet ist in der Schweiz ungebrochen. 2008 wurde ein Fünftel mehr Packungen der Mittel verkauft, die gegen das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden, als ein Jahr zuvor. Damit hat sich der Schweizer Ritalin-Markt innerhalb eines Jahrzehnts verachtfacht.

Die Schweizerische Heilmittelkontrolle Swissmedic geht davon aus, dass der Markt für diese starken Stimulanzien auch in Zukunft ungebrochen wachsen wird. Ihre Wirkung ist mit derjenigen von Amphetaminen zu vergleichen. Unklar bleibt, an wen und in welcher Menge die Medikamente abgegeben werden. Kritiker vermuten, dass Ärzte und Psychologen die Medikamente vermehrt auch Erwachsenen verschreiben. «Dafür haben wir keine Anzeichen», heisst es bei der grössten Schweizer Krankenversicherung, Helsana, die Verschreibungen an Erwachsene im Einzelfall prüfen muss.

Besorgte Politiker gehen deshalb davon aus, dass das Wachstum dieses Marktes in erster Linie auf der lockeren Verschreibungspraxis in der Kinder- und Jugendpsychiatrie beruht. Der Kanton Zürich untersucht gegenwärtig die Verschreibungszahlen an den Volksschulen. Nun gibt es auch auf nationaler Ebene Bestrebungen, detaillierte Daten darüber zu erheben, an wen die meldepflichtigen Medikamente abgegeben werden. «Die Pharmamultis operieren in einem geschützten Markt und verkaufen immer mehr dieser Medikamente. Damit tragen sie erheblich zu den steigenden Gesundheitskosten bei», sagt FDP-Nationalrat Otto Ineichen.

Die Gegner der medikamentösen ADHS-Behandlung misstrauen insbesondere den Kinderärzten. Im Internet publizieren sie deren Verbindungen zu den drei Herstellerfirmen Novartis, Janssen-Cilag und Salmon Pharma. Zahlreiche Ärzte legen ihre Verbindungen zu diesen Firmen freiwillig offen.

Experten schätzen, dass inzwischen in jeder Klasse ein bis zwei Ritalin-Schüler sitzen. Die Statistik untermauert diese Annahme: Ritalin hat in den letzten zehn Jahren einen regelrechten Boom erlebt – in dieser Zeit stieg der Absatz von Medikamenten gegen das Aufmerksamkeits-Syndrom (ADHS) um den Faktor acht, wie die Schweizerische Heilmittelkontrolle Swissmedic kürzlich mitteilte. Swissmedic geht davon aus, dass der Ritalin-Markt auch in Zukunft ungebrochen wachsen wird.

Viele Lehrer und Psychologen fragen sich nun, ob die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die an ADHS leiden, im gleichen Mass zugenommen hat. Urs Strasser, Rektor der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich, hat eine andere Vermutung: Er glaubt, dass die Hausärzte das Medikament vermehrt abgeben und so zur Steigerung beitragen.

Nebenwirkungen vernachlässigt

«Allgemeinpraktiker geben Ritalin auf Druck der Eltern unter Umständen schneller ab als Kinder- und Jugendpsychiater», sagt Urs Strasser. Das hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: Laut Strasser steigt dadurch das Risiko, dass die Hausärzte die «flankierenden Massnahmen» bei der Ritalin-Vergabe nicht «sorgfältig realisieren». Diese seien jedoch unverzichtbar für die Schüler, da Ritalin Nebenwirkungen haben kann – unter anderem Nervosität, Depressionen, Appetit- und Schlafstörungen – und Kinder wie Eltern psychologisch begleitet werden müssten.

Dass viele Kinder mit Verdacht auf ADHS beim Hausarzt landen, hat noch einen anderen Grund: «Ritalin macht nur einen Bruchteil der Kosten einer Psychotherapie aus und ist weniger aufwändig», sagt Strasser. Zudem sei ADHS zur Modediagnose geworden; die «Wunderdroge» Ritalin suggeriere, man könne die Probleme von verhaltensauffälligen Kindern auf einfache Art und Weise lösen. «Andere Behandlungsmöglichkeiten werden dann gerne ausser Acht gelassen, da Ritalin in der Tat oft wirkt und eine Besserung bringt.»

Schüler nehmen länger Ritalin

Einen Teil des Anstiegs erklärt sich Strasser auch mit dem neuesten Wissensstand, wonach Jugendliche in der Pubertät nicht aus ADHS «rauswachsen» würden. «Früher nahmen Schüler von 7 bis 14 Jahren Ritalin, heute wird es bis 21 und älter verschrieben.» Das erklärt die Verachtfachung des Ritalin-Absatzes jedoch bei weitem nicht.

Auch Karl Diethelm, Leiter des Sonderpädagogischen Zentrums für Verhalten und Sprache in solothurnischen Bachtelen, kritisiert die lockere Verschreibungspraxis der Hausärzte. «Das ist sicher eine Erklärung für den steigenden Ritalin-Absatz.» Denn die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Kanton Solothurn hätte im Gegensatz dazu nicht mehr Ritalin verschrieben in den letzten Jahren – sondern sei eher zurückhaltender geworden. Das Hauptproblem sieht Diethelm in der unkontrollierten Ritalin-Abgabe durch gewisse Hausärzte: «Es sind mir Fälle bekannt, wo Kinder jahrelang Ritalin auf Verschreibung des Hausarztes schluckten. Sie überprüften nicht, ob dies überhaupt nötig ist.»

Hausärzte sollen Schulbank drücken

Für Diethelm ist klar: Eine Bildungsoffensive bei den Hausärzten könnte die rasante Zunahme von Ritalin-Schülern stoppen. Als härtere Massnahme schlägt er vor, dass Allgemeinpraktiker künftig kein Ritalin mehr verschreiben dürfen. Dies solle Kinder- und Jugendpsychiatern vorbehalten sein.

siehe auch https://radiob.wordpress.com/2007/12/01/psychopharmaka-geschaft-ohne-gewissen/

Tipps gegen Burnout in der IT

Tipps gegen das Burnout-Syndrom bei ITlern

Was mit vergleichsweise harmloser Gereiztheit und Schlafstörungen beginnt, endet oft mit Angstzuständen und Depressionen: Unter Erschöpfungssyndromen leiden auch viele Mitarbeiter in der IT. Das Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung (RISP) an der Uni Duisburg-Essen entwickelt in einem bis 2010 dauernden Projekt deshalb Strategien für einen präventiven Gesundheitsschutz in der IT-Branche. Das aktuelle Arbeitspapier „Burnout in der IT-Branche“ entstand in Kooperation mit sechs Unternehmen und richtet sich an Beschäftigte, Personalleiter und Firmenleitungen.

Das Papier beschreibt zunächst die Warnsignale von Burnout: Sie laufen in drei Dimensionen ab und äußern sich in Gefühlen, körperlichen Symptomen, dem Verhalten zur Arbeit und dem Umgang mit der Umwelt: Der emotionalen und physischen Erschöpfung folgen Zynismus, Demoralisierung und Entfremdung. Am Ende fehlt das Engagement für die Arbeit und Versagensängste machen sich breit.

Einer kritischen Würdigung unterzogen werden die immer zahlreicheren Selbst-Tests sowie die unterschiedlichen Erklärungsansätze, die entweder die wesentlichen Ursachen beim Individuum oder im betrieblichen Umfeld sehen. Vor allem aber gibt die Autorin, Ursula Kreft, Anregungen für betriebliche Maßnahmen und individuelle Verhaltensänderungen. Unternehmen sollten ein umfassendes Gesundheitsmanagement anstreben, mit verbindlichen Arbeitszeitregelungen und Pausenzeiten. Wichtig sei auch eine funktionierende innerbetriebliche Kommunikation, um belastende Faktoren im Arbeitsprozess zu identifizieren.

Zum persönlichen Selbsthilfeprogramm gehöre zum einen, für einen körperlichen und seelischen Ausgleich zu sorgen. Man sollte aber auch das eigene Arbeitsverhalten angehen: für Puffer im Terminkalender sorgen, regelmäßige, kurze Pausen einlegen. Allerdings, so betont die Autorin als Quintessenz des Arbeitspapiers, seien individuelle Bemühungen zum Misserfolg verdammt, wenn der Betrieb nicht mitzieht.

IT Jobs machen psychisch krank

Achtung Gefahr: Programmieren macht krank!

Leiden Sie unter chronischer Müdigkeit, Nervosität, Schlafstörungen und Magenbeschwerden? Haben Sie Mühe, einfach mal abzuschalten und sich zu erholen? Dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Noch vor zehn Jahren galten IT-Arbeitsplätze als wenig monoton und psychisch kaum belastend. Das hat sich geändert.

Das Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung der Universität Duisburg hat im Rahmen seines Projektes ‚Präventiver Gesundheitsschutz in der IT-Branche‘ ein Arbeitspapier veröffentlicht, in dem anhand von Befunden aus der aktuellen Literatur mögliche Gründe für die Zunahme gesundheitlicher Probleme in der IT-Branche zusammengestellt sind.

So scheint etwa das projektbezogene Arbeiten vieler IT-Leute gesundheitliche Gefahren zu bergen.
An der Schnittstelle zwischen Anbieter und Kunden können verschiedene widersprüchliche Situationen entstehen, welche sich psychisch belastend auf die Mitarbeitenden in der Entwicklung auswirken können. So müssen zum Beispiel im Verlauf eines Projekts häufig zusätzliche Kundenwünsche erfüllt werden, ohne dass Budget und Zeitplan angepasst würden. Oder Entwickler sollen massgeschneiderte Lösungen ins Blaue hinaus abliefern, ohne den Echtbetrieb beim Kunden zu kennen. Das alles mündet schliesslich in erhöhtem Zeitdruck, und nicht selten kollidieren Arbeits- und Lebenswelt. So entsteht Stress und aus anhaltendem Stress wird irgendwann ein ausgewachsenes Burnout.


Überforderung vorprogrammiert

Ein anderes Phänomen ist die „Taylorisierung der IT-Arbeit“, wie der Trend zur „Kleinteiligkeit“ im Bericht genannt wird. Weg vom Prozess, hin zum Modul: IT-Arbeitskräfte werden zur Fliessbandarbeit degradiert und verlieren den Bezug zum „Grossen Ganzen“.

Gleichzeitig haben sich seit den 90er Jahren neue Managementkonzepte durchgesetzt. Mitarbeitende sollen vereinbarte Ziele selbstverantwortlich erreichen. Sie erhalten mehr Selbstbestimmung und Freiheit, tragen allerdings auch mehr Verantwortung. Seit die rosige Blase geplatzt ist und sich die Wirtschaftslage für die „neuen“ Wirtschaftszweige normalisiert hat, hat sich diese Freiheit zur potenziellen Belastung gewandelt. „Die Ziele, die IT-Beschäftigte selbstverantwortlich erreichen sollen, werden immer schwieriger
zu bewältigen“, heisst es in einer der erwähnten Studien.

Veränderte Leistungsbeurteilung trägt das ihre zur Veränderung der Arbeitssituation bei. Leistung wird nicht mehr über Aufwand, sondern über Ergebnisse bewertet. Das führt dazu, dass man sich immer wieder
aufs Neue beweisen muss. Das führt zum permanenten Druck zur Weiterbildung, die oft auch mal in der Freizeit erfolgen soll.


„Klimawandel“ bedroht IT-Dinosaurier

Eine weitere Tendenz macht die Wissenschaft in der Veränderung des Betriebsklimas aus. Das traditionell hohe Arbeitsaufkommen sei früher durch eine „spezifische betriebliche Sozialordnung“ erträglich gewesen.
Diese gehe verloren. Sprich: die Vertrauenskultur, die flachen Hierarchien und die Identifikation der Mitarbeitenden mit Inhalten und Produkten ihrer Arbeit weicht dem Primat der Effizienz und der Kostenoptimierung.

Auch der gesellschaftliche Wandel nagt am Wohlbefinden in den Entwicklerbüros. Die früher als sicher geltenden IT-Jobs sind heute Personalabbauphasen und Auslagerungen ausgesetzt. Die Angst vor Arbeitslosigkeit belastet und setzt Beschäftigte unter Druck. Und: auch IT-Angestellte werden älter. Der demografische Wandel macht vor der Branche nicht halt. Eine der Studien kommt zum Schluss, mit 40 sei man als IT-Mensch schon „ein halber Methusalem“. Als solcher befindet man sich in einer Unternehmenskultur, die sich an Jugendlichkeit orientiert. Oft gelte man als leistungsschwacher Dinosaurier.

Programmierer nehmen häufiger Psychopharmaka
In der Folge haben die Forscher Bemerkenswertes herausgefunden. Eine der Studien weist für IT-Beschäftigte in den untersuchten Projekten viermal häufigeres Auftreten psychosomatischer
Beschwerden aus als in anderen Berufsgruppen. Eine andere Untersuchung zeigt, dass psychische Krankheiten in der Branche weit verbreitet sind. Der Gebrauch von Antidepressiva ist um 60 Prozent höher. Allgemein nehmen IT-Angestellte in Deutschland fast doppelt so häufig (um 91 Prozent höherer Gebrauch)
Psychopharmaka wie der Durchschnitt der Beschäftigten.

Als reichten all die Faktoren psychischer Belastung noch nicht: die verschärften Arbeitsbedingungen schädigen auch die menschliche Hardware! Dass Dauerstress, Überarbeitung und Frustration über nicht erreichbare Ziele dem Körper nicht gut tun, liegt auf der Hand. Hinzu kommen mangelnde
Bewegung (die sich meist auf den Gang in die Kantine beschränkt), verkrüppelte Haltungen vor dem Bildschirm und natürlich: unausgewogene Ernährung. Der Mythos vom Nächte durcharbeitenden Computerfreak, der sich von Limos und Junk-Food ernährt, entspricht wohl auch ein Stück weit der Realität.


Geben und nehmen

Soweit die Forschungsergebnisse aus Deutschland. Das düstere Bild, das sie von den Arbeitsbedingungen in den IT-Abteilungen und Entwicklungsfirmen zeichnen, lässt sich wohl auch auf die Schweiz übertragen.
„Unsere Branche ist sehr arbeitsintensiv“, bestätigt Gabriela Keller, die beim Schweizer Software-Hersteller Ergon für das Personal verantwortlich ist. Das Unternehmen hat verschiedene Massnahmen getroffen, um seine Mitarbeiter nicht zu „verheizen“. „Nur wer sich gut fühlt, schreibt auch gute Software“, sagt Keller. So werden beispielsweise Überstunden bei Ergon nicht ausbezahlt. Wer phasenweise
mehr arbeitet, muss dies mit mehr Freizeit kompensieren. Und die Gestaltung der Wochenarbeitszeit ist flexibel. Ob während fünf Tagen acht Stunden oder an vier Tagen zehn Stunden gearbeitet wird, bestimmt man selbst. Viele Mitarbeitende sind ohnehin zu 80 Prozent angestellt. Um sich weiterzubilden, hat jeder ein Budget und ein Zeitfenster innerhalb der Arbeitszeit, über das frei verfügt werden kann.

Keller schätzt auch die körperliche Fitness in ihrem Betrieb als gut ein. „Unsere Mitarbeiter sind im Schnitt sehr sportlich.“ Viele würden sich über Mittag zu Gruppen zusammenschliessen und joggen oder Fussball
spielen gehen- in der eigens angemieteten Halle, bezahlt vom Arbeitgeber. Wer auf inneres Gleichgewicht setzt, kann die Yogastunde im Dachgeschoss besuchen. Ergon, das IT-Arbeits-Paradies auf Erden? „Nein, ich glaube, dass viele Firmen in der Schweiz ähnlich funktionieren“, relativiert die Personalchefin.

Das hingegen bezweifelt Marc Werlen, der als Marketingleiter bei Netcetera zwar nicht selbst entwickelt, die Branche aber dennoch kennt. „Längst nicht alle Managements haben eingesehen, wie wichtig das
Wohlbefinden der Mitarbeitenden ist“, kritisiert er. Mit Features wie einem ausgeklügelten Beleuchtungssystem, ergonomischen Arbeitsplätzen und der Möglichkeit zum Hallensport über Mittag positioniert sich auch sein Unternehmen unter den fortschrittlichen Musterknaben. „Die Komplexität der Lösungen nimmt zu, Druck und Eigenverantwortung sind hoch“, bestätigt Werlen die
Studienresultate.

Doch das müsse nicht unbedingt negativ sein. Mehr Verantwortungsbewusstsein und mehr Effizienz seien Anzeichen eines stetig wachsenden Professionalisierungsgrades. Und schliesslich habe die IT-Branche
auch einzigartige Möglichkeiten eingeführt, wie das Arbeiten von zu Hause. Von einem allgemeinen Trend zur Optimierung der Arbeitsbedingungen und attraktiven Zusatzleistungen könne zwar noch nicht gesprochen werden. Wie die Ergon-Personalchefin ist auch der Marketingchef aber überzeugt: „Zufriedene
Mitarbeiter erbringen gute Leistungen. Und wo immer mehr geleistet werden muss, braucht es Gegenleistungen. (Amir Ali)

(Interessenbindung:
Ergon und Netcetera bauen und betreiben die Betriebsplattform von inside-it.ch
und sind wichtige Kunden des Verlags.)

Embryonen: Mix aus Mensch und Tier

Britische Forscher schaffen Embryonen aus Mensch und Tier

Britische Forscher haben
Embryonen aus menschlichem Erbgut und Eizellen von Tieren geschaffen.
Die Erzeugung dieser Chimären sei ein wichtiger Erfolg für die
Stammzellenforschung, erklärte die Universität von Newcastle.


Bild: Keystone

Die Experimente sind umstritten

Die Embryonen aus menschlichem Erbgut, das aus Hautzellen gewonnen wurde, und Eizellen von Kühen seien nach drei Tagen zerstört worden.
Gemäss Sondergenehmigung hätten sie spätestens nach 14 Tagen vernichtet werden müssen.

Die Forscher in Newcastle unter Leitung des Stammzellenforschers Lyle Armstrong kündigten einen weiteren Versuch an, mit welchem sie die Hybriden sechs Tage leben lassen wollen.

Sollten auch diese Versuche erfolgreich verlaufen, könnten nach den Vorstellungen der Forscher auch Embryonen aus Mensch und Kaninchen, Ziegen und anderen Tieren entstehen.

Ähnliche Experimente wollen auch Stammzellenforscher am King’s College in London unternehmen. Auch sie haben dafür bereits eine
Sondergenehmigung der britische Embryologie-Behörde HFA erhalten.

Die Wissenschafter wollen feststellen, ob sich Chimären-Stammzellen für die Behandlung schwerer Krankheiten nutzbar machen lassen.

In Grossbritannien ist im Unterschied zu den meisten anderen europäischen Ländern die Herstellung von Hybrid-Embryonen zu
Forschungszwecken seit 2007 erlaubt.

Tierische Eizellen stünden im Gegensatz zu menschlichen unbegrenzt zur Verfügung, sagte John Burn, der Leiter des Instituts für
Humangenetik der Universität von Newcastle, zur Begründung.

„Menschliche Eizellen sind sehr wertvoll und entsprechend schwer zu bekommen. So kamen wir auf die Idee, den Mangel durch die Verwendung von Kuh-Eizellen zu überwinden“, erläuterte er.

(sda)

Psychisch krank

Beobachter 05/08

Psychisch krank

Das verkannte Leiden

Text: Matieu Klee
Bild: Sanna Lindberg, Daniel Ammann, Markus Forte, Roland Schmid

Der steigende Druck in der Arbeitswelt zwingt mehr und mehr Leute in die Knie. Rund ein Viertel der Bevölkerung leidet bereits an einer psychischen Erkrankung. Die 5. IV-Revision hat die Luft für sie noch dünner gemacht.

Am Anfang drehte sich die Abwärtsspirale bei Andreas Springer noch ganz langsam, kaum wahrnehmbar. Er ist jung, steckt voller Pläne und ist zufrieden mit seinem Job. Doch mit seinem beruflichen Aufstieg wachsen auch Verantwortung und Belastung. Eine psychische Krankheit schleicht sich in sein Leben: eine Angsterkrankung, Fachbegriff: Agoraphobie. Er hält sich mit Beruhigungsmitteln über Wasser, nach einiger Zeit funktioniert er nur noch mit Tabletten. Schliesslich kommt es zum Eklat: Die Krankheit obsiegt. Er wird arbeitsunfähig (siehe am Artikelende in der Box «Artikel zum Thema» den Eintrag «Andreas Springer: ‹Ich schäme mich nicht›»).

Andreas Springer ist einer von 710’000 Menschen in der Schweiz, die an einer Angsterkrankung leiden. Diese Zahl geht aus einer neuen Studie der Universität Zürich hervor. Alle psychischen Krankheiten wie Depressionen oder Schizophrenie eingerechnet, leidet rund ein Viertel der Schweizer Bevölkerung – oder zwei Millionen Menschen – an einer psychischen Störung. Damit ist diese Krankheitsgruppe mit Abstand Volkskrankheit Nummer eins – und wird dennoch weiterhin verkannt. Die Betroffenen kämpfen gegen Stigmatisierung und gegen das hartnäckige Vorurteil, ein starker Wille würde genügen, um die Störung zu überwinden.

«Wir haben all diejenigen gezählt, die wegen ihres psychischen Leidens behandlungsbedürftig sind», erklärt Studienautor Wulf Rössler von der Psychiatrischen Uniklinik Zürich. «Behandlungsbedürftig» heisst konkret, dass die Betroffenen nur noch eingeschränkt funktionieren. Rasant zugenommen hat vor allem die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die wegen einer psychischen Krankheit ihrem Beruf nicht mehr nachgehen können: Innerhalb von zehn Jahren hat sich ihre Zahl auf nahezu 100’000 verdoppelt. Insgesamt beziehen in der Schweiz rund 250’000 Personen eine IV-Rente.

Das Stigma «Scheininvalide»

Bei einer psychischen Krankheit beweist kein Röntgenbild objektiv und unbestreitbar den Defekt. Die Betroffenen stehen denn auch in der politischen Debatte rasch unter dem Generalverdacht, einfach arbeitsscheu zu sein. Mit der 5. IV-Revision wurden psychisch bedingte IV-Fälle speziell ins Visier genommen, mit dem Ziel, die defizitäre Invalidenversicherung zu sanieren. Alles Scheininvaliden? Fachleute sind sich einig: Der Anteil jener, die nicht arbeiten wollen, ist verschwindend klein. «Natürlich gibt es Drückeberger, aber das sind maximal vier Prozent. Die anderen 96 Prozent würden sich eine Hand abhacken lassen, nur um wieder in ihren Beruf zurückkehren zu können», ist der renommierte Sozialpsychiater Rössler überzeugt.

Wie aber lässt sich der sprunghafte Anstieg von psychisch bedingten IV-Fällen dann erklären? Hans Kurt, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, der in seiner Praxis in Solothurn täglich selbst psychisch kranke Menschen behandelt, glaubt, dass gesellschaftliche Veränderungen dafür verantwortlich sind: «Die Welt wird immer komplizierter, die Belastungen nehmen zu, und das führt bei vielen Menschen zu diffusen Ängsten», sagt er. Ähnliche Beobachtungen macht auch Holger Hoffmann, der bei den Psychiatrischen Diensten Bern ein Projekt zur Wiedereingliederung psychisch Kranker ins Berufsleben leitet: «In der heutigen Gesellschaft kann sich jeder selbst verwirklichen. Der Preis dieser Individualisierung ist, dass die Gesellschaft immer weniger integrierend wirkt: Angeschlagene finden kaum noch Nischen.»

Das gilt vor allem für die Arbeitswelt. Tausende von Stellen mit einfacheren Tätigkeiten für Arbeitskräfte ohne akademischen Titel sind in den letzten Jahren verschwunden oder ins Ausland verlagert worden. Die Arbeitswelt hat sich mit Computern und Internet komplett verändert. «Auf diese Umstellung waren viele nicht vorbereitet. Sie fühlen sich überfordert, ihr Stress hat zugenommen. Heute muss alles rentieren, koste es, was es wolle. Wer bis anhin knapp mithalten konnte, fällt nun raus», sagt Hoffmann.

Der berühmte Tropfen zu viel

Eine Einschätzung, die Bettina Bärtsch teilt. Sie arbeitet an der Psychiatrischen Uniklinik Zürich, ist dort verantwortlich für die berufliche Wiedereingliederung von Betroffenen. «Viele sind bereits stark vorbelastet durch ihre familiäre Situation oder ihre Persönlichkeitsstruktur. Sie können lange am Arbeitsplatz funktionieren, bis irgendein Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt», so ihre Erfahrung. Das kann eine Trennung, ein Todesfall oder aber auch ein Chef sein, der mehr Druck aufsetzt. Am meisten gefährdet seien Menschen, die ihre eigenen Bedürfnisse nicht wahrnehmen oder unterdrücken, sagt Bärtsch. Wer Konflikte vermeide, statt sie auszutragen, wer Ärger runterschlucke, statt sich zu wehren, der könne irgendwann nicht mehr.

Trotz rund zwei Millionen Betroffenen in der Schweiz sind die meisten dieser psychischen Störungen nach wie vor tabu. «Eine psychische Krankheit ist weitgehend unsichtbar und für Angehörige, aber auch für die Betroffenen selbst schwer fassbar», schreibt etwa der Vater einer psychisch Erkrankten in der Online-Umfrage, die der Beobachter lanciert hat (Stimmen zum Thema: siehe am Ende des Artikels). Nur langsam wird dieses Tabu aufgebrochen – meist dann, wenn für eine Krankheit ein neuer Begriff auftaucht wie beim Burn-out. «Die Gesellschaft akzeptiert ein Burn-out viel eher als eine Depression. Beim Burn-out ist der Arbeitsplatz schuld, bei der Depression der Betroffene selbst – so die vorherrschende Meinung», erklärt Psychiater Rössler. Der Fachmann rät denn auch jedem Klinikpatienten, nicht leichtfertig von seiner Krankheit zu erzählen. Denn wer in der Gesellschaft noch als Sonderling durchgegangen sei, der werde, nachdem er sich geoutet habe, oft stigmatisiert und ausgegrenzt. Das hat der Wissenschaftler in einer Studie nachgewiesen: So würde jemand, der an Schizophrenie litt, aber schon seit Jahren geheilt ist, nur gerade von vier Prozent der Bevölkerung als Babysitter akzeptiert.

Menschen auf dem Abstellgleis

Die 5. IV-Revision, die seit Anfang Jahr in Kraft ist, hat vor allem das Ziel, Kosten einzusparen. Bereits sind die Hürden für eine IV-Rente höher geworden. «Der Zugang zu einer IV-Rente für Menschen mit psychischen Leiden ist schwieriger geworden. Heute müssen viele Rentengesuche abgelehnt werden, bei denen man davon ausgehen muss, dass die Betroffenen den Einstieg ins Berufsleben nie wieder schaffen werden», so der nebenamtliche Bundesrichter Andreas Brunner. Besonders hart ist das, weil bei einem ablehnenden Entscheid auch Ergänzungsleistungen und die zweite Säule wegfallen. Betroffenen bleibt meist nur noch der Gang zur Sozialhilfe.

Mit dem Schlagwort «Eingliederung vor Rente» sollen möglichst viele von der IV ferngehalten werden. «Dahinter steckt die Erkenntnis, dass man psychisch Angeschlagene bisher zu rasch krankgeschrieben und sich zu wenig um ihre Rückkehr ins Erwerbsleben gekümmert hat», sagt der Freiburger Rechtsprofessor und Sozialversicherungsexperte Erwin Murer. Doch sind Firmen überhaupt interessiert daran, angeschlagene Leute zu beschäftigen? «Die Bereitschaft, diese Menschen einzustellen, ist massiv gesunken, denn sie sind bei Arbeitgebern mit Stereotypen wie Unberechenbarkeit, Unheilbarkeit und Gefährlichkeit behaftet», schreibt der Psychiater Hans-Christian Kuhl in einer Studie über die Chancen von psychisch Kranken auf dem Arbeitsmarkt.

Es gibt allerdings auch Arbeitgeber, die sich der Herausforderung stellen. Je geringer das wirtschaftliche Risiko, desto eher seien Firmen bereit, psychisch Kranke zu beschäftigen, lautet die Erfahrung von Holger Hoffmann, der in Bern ein Projekt leitet, das sich dem neuen Zauberwort «supported employment» verschrieben hat, übersetzt: «unterstützte Beschäftigung». Dabei werden die Betroffenen statt in einer geschützten Werkstatt, die vom normalen Arbeitsprozess abgekoppelt ist, wieder möglichst nah an den ordentlichen Arbeitsmarkt herangeführt. Wenn sowohl der Lohn der eingeschränkten Leistung angepasst werden könne als auch ein Jobcoach den Betroffenen betreue, dann seien Unternehmen durchaus bereit, Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, hat Hoffmann festgestellt.

Eine Firma, die schon vor 25 Jahren begann, solche Arbeitsplätze einzurichten, ist der Möbelhändler Pfister aus Suhr. Die Firma bietet rund ein Dutzend Stellen für Psychiatriepatienten im normalen Arbeitsprozess an: im Lager, in der Administration, im Personalrestaurant oder bei der Reinigungsequipe. Dort sollen die Betroffenen ganz normal arbeiten können, müssen jedoch nicht die gleiche Leistung erbringen wie die gesunden Mitarbeiter. «Ein chronisch psychisch Kranker kann und muss keinen gesunden Mitarbeiter ersetzen», sagt Mediensprecher Luca Aloisi.

Den Beschäftigten soll in erster Linie überhaupt der Wiedereinstieg in ein geregeltes Erwerbsleben gelingen. Grundvoraussetzung für den Erfolg seien motivierte Teilnehmer und ein ebenso motiviertes, geduldiges und tolerantes Team, so die Bilanz nach 25 Jahren Erfahrung. «Ob es tatsächlich gelingt, hängt immer von der Persönlichkeit, der Krankheit und deren Schweregrad ab», sagt Aloisi. Einige seien nach kurzer Zeit so weit integriert, dass sie kaum noch spezielle Aufmerksamkeit benötigten, andere bräuchten länger oder erreichten nie die erhoffte Stabilität. Trotzdem wachsen auch bei Pfister die Bäume nicht in den Himmel. «Den Schritt in den normalen Arbeitsmarkt schaffen nur ganz wenige», sagt der Mediensprecher.

Der harte Weg zurück in den Alltag

Auch die Zürcher Stiftung Espas hat sich zum Ziel gesetzt, angeschlagene Menschen wieder so fit zu machen, dass sie dem rauen Wind auf dem Arbeitsmarkt trotzen können. Dieses Ziel zu erreichen ist umso schwieriger, als es just dieser eisige Wind war, der viele von ihnen krank gemacht hat. «Die grösste Herausforderung ist, dass die Menschen wieder stabil und belastbar genug werden, um Krisen aushalten und überwinden zu können», erklärt die verantwortliche Abteilungsleiterin Rita Bühlmann. Zentraler Anknüpfungspunkt: Stärkung des Selbstwertgefühls. «Wenn es einmal nicht so läuft wie erwartet, kommt bei vielen die Angst auf zu versagen.»

Dieser Angst versuchen die Verantwortlichen mit Erfolgserlebnissen zu begegnen: Wer einmal ein vereinbartes Ziel erreicht hat, verdaut später Rückschläge eher. In einem sechsmonatigen Arbeitstraining erledigen die Beschäftigten kaufmännische Arbeiten. Frühestens danach werden sie auf den Arbeitsmarkt losgelassen. Bei Bewerbungen, aber auch in der heiklen Anfangsphase im neuen Job unterstützt sie ein Coach.

Eines jedoch können all die Experten trotz langer Erfahrung nicht voraussagen: «Wir wissen nie, ob jemand den Sprung zurück ins Erwerbsleben schafft.»

  • Lesen Sie zum Thema auch das Porträt von Andreas Springer (siehe am Artikelende in der Box «Artikel zum Thema» den Eintrag «Andreas Springer: ‹Ich schäme mich nicht›»)

Die Schweiz: Ein Land der kranken Seelen

Die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die wegen einer psychischen Störung ihren Beruf nicht mehr ausüben können, hat sich innert zehn Jahren auf nahezu 100’000 verdoppelt

Psychische Erkrankungen als Grund für eine IV-Rente

Info-Grafik

Durchschnittliche Anzahl Erkrankungen pro Jahr (Auswahl)

Info-Grafik

Welche psychischen Krankheiten gibt es?

Der Verlauf ist bei den verschiedenen psychischen Krankheiten oft individuell sehr verschieden, was eine Umschreibung erschwert. Nachfolgend vier typische Krankheiten:

  • Angststörung, Phobie und Panikattacken: Betroffene haben häufig unbegründete Ängste. Diese können ganz diffus oder auf bestimmte Situationen oder Objekte gerichtet sein. Betroffenen ist meist bewusst, dass ihre Ängste völlig übertrieben sind. Phobien zeigen sich oft wie bei der sogenannten Agoraphobie im Zusammenhang mit grossen Menschenmengen: Angst vor dem Einkaufen, Autofahren, in Tunneln, im Lift oder in Zügen, überhaupt vor dem Verlassen des Hauses oder des Wohnorts. Menschen mit Angststörungen empfinden häufig nicht die Angst selbst, sondern körperliche Symptome wie etwa Schwindelgefühle, Herzrasen, Zittern, Druck auf der Brust oder auch Magen-Darm-Beschwerden.
  • Schizophrenie: Sie zeichnet sich durch eine tiefgreifende Störung von Denken und Wahrnehmung aus. In akuten Phasen glauben Betroffene oft, dass ihre innersten Gedanken, Gefühle und Handlungen anderen bekannt sind oder dass andere sogar daran teilhaben. Häufig hören sie Stimmen, die
  • Depression: Hauptmerkmal ist der Verlust von Interesse und Freude. Dazu kommen körperliche Symptome wie etwa Schlafstörungen oder Appetitlosigkeit, Konzentrationsstörungen bis hin zu Suizidgedanken.
  • Bipolare Störung: Typisch für diese Störung (früher: manisch-depressive Erkrankung) ist der Wechsel von depressiven und euphorischen Krankheitsphasen. In der meist weniger lang anhaltenden euphorischen Phase ist von der Fröhlichkeit bis zur Gesprächigkeit vieles übersteigert.

Meinungen

Portrait

«Wir isolieren uns – und verkümmern»

«Die Menschen sind alle überfordert, denn das Leben ist nicht mehr gemütlich. Die Arbeit ist zu hart geworden: Es zählt nur noch die Leistung. Auch im Privatleben muss alles schnell erledigt, speditiv angepackt und sexy sein. Am Feierabend sind wir so ausgepumpt, dass wir weder Zeit haben noch Lust verspüren, Freunde zu treffen. So isolieren wir uns mehr und mehr und verkümmern schliesslich.»

Barbara Rychen, 40, kaufm. Angestellte, Bottmingen


Portrait

«Betroffene fühlen sich ausgestossen»

«Wer hierzulande an einer psychischen Erkrankung leidet, schweigt meist aus falscher Scham – dies aus dem Gefühl heraus, nicht der Norm zu entsprechen, schwach und alleingelassen zu sein. Letztlich fühlen sich die Betroffenen von unserer Gesellschaft nicht akzeptiert. In den USA ist das anders: Die Menschen diskutieren mit Freunden über ihre Probleme. Man sagt, schon jeder Psychiater habe seinen Psychiater.»

Marcel Stuber, 63, Angestellter, Küsnacht


Portrait

«Die Leute sind zu weich geworden»

«Wir lassen uns heute zu leicht durch private oder berufliche Probleme aus der Bahn werfen. Da die meisten in Kleinfamilien oder allein leben, fehlt uns das Auffangnetz einer Grossfamilie. Die Menschen sind zu weich geworden. Wir legen unseren Kindern alles in den Schoss. Man kann sie aber nicht 18 Jahre lang verweichlichen und dann glauben, er oder sie stehe plötzlich seinen Mann oder seine Frau.»

Marlene Heer, 50, Angestellte, Bussnang


Portrait

«Wir leben nicht, wir werden gelebt»

«Das Tempo der Arbeit macht die Menschen krank. Früher arbeitete man länger, jedoch lagen Pausen drin. So ergaben sich Gespräche und Beziehungen, die so manchen Knoten lösten. Heute ist alles rasend schnell geworden. Wir sollten mit einer Arbeit schon fertig sein, bevor wir damit begonnen haben. Dieses Tempo schwappt auf unser Privatleben über: Wir haben das Gefühl, gelebt zu werden, statt zu leben.»

Ueli Flachsmann, 40, Sozialdiakon, Zürich

Portrait

«Nur noch die Leistung zählt»

«Der Druck in der Arbeitswelt macht vielen Mühe. Ständig wird gespart, Stellen werden gestrichen. Jene, die im Job zurückbleiben, müssen so noch mehr bewältigen. Es zählt nur noch die Leistung. Werte wie Menschlichkeit, Gewissenhaftigkeit oder Hilfsbereitschaft geraten unter die Räder. Weiter kommt, wer genug Egoismus an den Tag legt. Da bleiben Menschen zwangsläufig auf der Strecke.»

Anja Tobler, 35, technische Operationsfachfrau HF, Thal

Systemtheorie selbstreferentieller Systeme nach Luhmann

Eine Einführung in die Systemtheorie selbstreferentieller Systeme nach Niklas Luhmann

Einleitung

Niklas LUHMANN (1993), der Begründer der soziologischen Theorie selbstreferentieller Systeme, knüpft in seiner Theoriekonstruktion an die Arbeiten Talcott PARSONS an. Sein Ziel ist es, eine fachuniverselle Theorie zu begründen, die in ihrem Komplexitätsgehalt der Komplexität realer sozialer Systeme – bis hin zu Gesellschaftssystemen – angemessen ist. LUHMANN schreibt, daß dabei seine Theorieanlage „eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende“ (1993, S. 14) gleicht; damit gibt er dem systemischen Charakter seiner Theorie Ausdruck: Sie hat „einen Komplexitätsgrad erreicht, der sich nicht mehr linearisieren läßt“ (ebd).

Er überwindet den vorherrschenden systemtheoretischen Gebrauch der Begriffe „Struktur“ und „Funktion“. Diese werden zwar weiter verwendet, verlieren jedoch ihre vorrangige Bedeutung. Statt dessen werden die Begriffe Selbstreferentialität und Autopoiesis zu grundlegenden Prämissen. Dies geschieht durch Anknüpfung an die Theorie MATURANAS (vgl. 1982, 1987) und VARELAS, in der die Selbstorganisation des Systems primär in den Blick genommen wird.

Die allgemeine Systemtheorie muß von den speziellen Systemtheorien unterschieden werden. Lebendige Systeme divergieren von nicht lebendigen durch Autopoiesis. Das bedeutet, daß Lebewesen sich immer wieder selbst organisieren und reproduzieren. Soziale und psychische Systeme werden von LUHMANN zusätzlich durch das Operieren mit Sinn von anderen lebendigen Systemen abgegrenzt. Nicht alle Systeme operieren also nach dem gleichen Modus; sie sind deshalb streng voneinander zu trennen. Die Kritiker der Systemtheorie, die von einer unkritischen Übertragung eines technischen Modells auf den sozialwissenschaftlichen Bereich sprechen, beachten diese Unterscheidung (der heutigen Systemtheorie) oft nicht.

Durch die gemeinsame Sinnverarbeitung kann auch die Co-Evolution von psychischen und sozialen Systemen beschrieben werden. Beide Systeme durchdringen (interpenetrieren) sich. Sie stellen sich gegenseitig ihre Komplexität zur Verfügung, sind in ihrem Sinnverarbeiten und Sinnproduzieren jedoch eigenständig.

Menschliche Beziehungen stellen nach dieser Theorie ein soziales System dar, das sich mit zwei psychischen Systemen (Bewußtsein von zwei Personen) interpenetriert. Im Sinne der hier verwendeten Terminologie gibt es also drei Sinnsysteme, die sich in aktiver Auseinandersetzung miteinander, aber in eigenständiger Selbstorganisation parallel entwickeln.

Mit einer solchen Begrifflichkeit kann beschrieben werden, daß sich Kulturen (als soziale Systeme) verändern, ohne auf jedes einzelne Individuum gleiche Auswirkungen zu erzielen. Umgekehrt können einzelne Menschen die Kultur verändern; auf welche Weise sich das vollzieht, ist dabei jedoch nicht durch die Intention der einzelnen determiniert, sondern abhängig von der Verarbeitung durch das Kultursystem. Die Übereinstimmungen zwischen psychischen Systemen, die der gleichen Kultur angehören sind deshalb höher als zu solchen aus anderer kultureller Umwelt, da die Sinnangebote ähnlicher sind. Ähnlichkeit bedeutet dabei aber nicht Gleichheit. Die einzelnen sozialen Subsysteme oder psychischen Sinnsysteme unterscheiden sich dabei nämlich immer, da sie den Sinn, der ihnen bereitgestellt wird, nach ihren eigenen Modalitäten, selbstorganisatorisch arrangieren. Komplexe sozialwissenschaftliche Probleme wie abweichendes Verhalten aber auch Phänomene wie Subkulturen können also durch diese Theorie anschaulich beschrieben werden.

Die Systemtheorie ist heute weit entfernt vom früheren Strukturfunktionalismus und kann auch Rollentheorie und symbolischen Interaktionismus theoretisch ineinander integrieren. Die systemtheoretischen Begriffe, die diese Verbindung zu leisten vermögen, sind Selbstreferentialität und Autopoiesis. Selbstreferentialität bezeichnet die Fähigkeit jedes lebendigen Systems, einen Bezug zu sich selbst in Abgrenzung zur Umwelt herzustellen. Die Grenzen des Systems gewinnen hier an Bedeutung, da die selbst festgelegten Grenzen darüber entscheiden, ob ein offenes (relativ durchlässiges) oder geschlossenes (relativ undurchlässiges) System vorliegt.

Rigide Systeme wie zum Beispiel Ideologien (als soziale Sinnsysteme) gelten als geschlossene Systeme, die kaum im Austausch mit ihrer Umwelt stehen. Deshalb sind ihre Strukturen dauerhafter als das bei offenen Systemen der Fall sein kann, da letztere sich aktiv mit der Umwelt auseinandersetzen. Bei sich verändernder Umwelt wird ein rigides System nicht dauerhaft überleben können, da der Außendruck an der Grenze zwischen System und Umwelt nicht durch Veränderung ausgeglichen wird. Sinnvoll ist dauerhafte Stabilität nur bei Systemen, die eine relativ konstante Umwelt haben. Als Beispiel hierfür können Meerestiere genannt werden, die sich in Jahrmillionen in Erscheinung (Phänotyp) und genetischem Code (Genotyp) nur wenig verändert haben, da sie – optimal angepaßt an die konstante Umwelt „Meerestiefe“ – kaum Anpassungsleistungen vollbringen mußten. Da lebendige Systeme immer im Austausch mit der Umwelt (z. B. durch Stoffwechsel) stehen, sind sie ständig gezwungen, ihre Einheit (Ganzheit) neu herzustellen. Dieser Vorgang wird als Autopoiesis bezeichnet. Umweltbedingungen werden dabei zwar aufgenommen; in welcher Weise sie aber ins eigene System integriert werden, wird durch die interne Verarbeitung im System bestimmt.

Bezüglich Rollentheorie und symbolischem Interaktionismus kann – durch die Theorie selbstreferentieller System – der Vorgang der Rollenübernahme folgendermaßen beschrieben werden: Der Mensch trifft in sozialen Situationen immer auf Erwartungen der Umwelt. Diese Erwartungen werden aber nicht unverändert übernommen, sondern müssen neu interpretiert und auf die jeweiligen Situationen angepaßt werden. Eine Veränderung durch die interne Verarbeitung ist dabei unumgänglich. Rollen als Aggregate der Umwelterwartungen sind somit nie identisch.

Die Theorie selbstreferentieller Systeme kann dabei als eine Synthese der beiden Gegenpole Existentialismus und Determinismus verstanden  werden. Die Veränderung eines Systems ist zwar von Außeneinflüssen abhängig, wie diese Außeneinflüsse jedoch intern verarbeitet werden, entscheidet sich in operationaler Geschlossenheit des Systems. Beim Eintritt der Außeneinflüsse in das System (Input) wird die Determination gebrochen, da das System sich selbst neu organisiert und damit in seinem Zustand neu erschafft. Der Output eines lebendigen Systems ist somit nie vorhersagbar, hier kann lediglich mit Wahrscheinlichkeiten operiert werden. Der gleiche Input in verschiedenen Systemen oder im gleichen System zu verschiedenen Zeitpunkten kann deshalb unterschiedlichen Output hervorbringen. Desweiteren kann unterschiedlicher Input aber auch zu identischem Output führen, was als finale Äquivalenz bezeichnet wird.

Abstrahierung vom Subjektbegriff

Der Begriff Sinn ist bei LUHMANN nicht mehr nur auf einzelne Personen anzuwenden. Vielmehr operieren auch soziale Systeme mit Sinn, der sich nicht mehr auf den Sinn einzelner Menschen zurückführen läßt.

„Sozialen Systemen liegt nicht ‘das Subjekt’, sondern die Umwelt ‘zu Grunde’, und mit ‘Zu Grunde liegen’ ist dann nur gemeint, daß es Voraussetzungen der Ausdifferenzierung sozialer Systeme (unter anderen: Personen als Bewußtseinsträger) gibt, die nicht mitausdifferenziert werden.“ (LUHMANN 1993, S. 244)

Hier geht LUHMANN auf die Tatsache ein, daß soziale Gebilde nicht auf die einzelnen Mitglieder reduzierbar sind. Die Summe der Mitglieder bzw. deren Ziele machen eben nicht das Ganze aus. Die Erfahrung, daß man als einzelner zum Beispiel dem Staat (als sozialem System) gegenüber steht, wird hier theoretisch gefaßt. Die sozialen Systeme gehören also zur Umwelt der psychischen Systeme und umgekehrt. Keines läßt sich allein aus dem anderen erklären. Natürlich bedarf es psychischer Systeme, wenn es soziale Systeme gibt. Aber auch Bewußtsein wäre ohne sozialen Bezugsrahmen nicht denkbar. Beide unterschiedlichen Systemarten bedingen sich somit gegenseitig und stellen in ihrer wechselseitigen Verschränkung eine Co-Evolution bezüglich ihrer Ausdifferenzierung dar. Keine der beiden Systemarten hat jedoch eine Vorrangstellung bei dieser Entwicklung. Sowohl Sozialsysteme als auch die Bewußtseins-Systeme reproduzieren sich selbst.

Eine weitere wesentliche Unterscheidung zur herkömmlichen Denkweise betrifft die Elemente von Systemen. Es sind hierbei keine materiellen Gegenstände gemeint. Vielmehr geht es um Handlungen oder Ereignisse. Auch hier muß also von Subjekten, die als grundlegende Elemente fungieren, abgesehen werden:

„Der Begriff Element ist kein Letztelement systemtheoretischer Analyse; (…) Entsprechend haben wir den Begriff des Elements entontologisiert. Ereignisse (Handlungen) sind keineswegs Elemente ohne Substrat. Aber ihrer Einheit entspricht keine Einheit des Substrats; sie wird im Verwendungssystem durch Anschlußfähigkeit erzeugt.“ (LUHMANN 1993, S. 292)

In diesem Kontext sind also nicht die Personen die Elemente eines sozialen Systems (z. B. einer Beziehung). Vielmehr stellen die Kommunikationen, die zu einem sozialen System gerechnet werden, die Elemente des Systems dar.

Selbstreferentialität

Wenn man von Selbstreferenz spricht, geht es um die Einheit, die ein Element, ein Prozeß oder ein System für sich selbst darstellt.

LUHMANN schreibt in seinem Buch Soziale Systeme:

„Es gibt selbstreferentielle Systeme. Das heißt zunächst nur in einem ganz allgemeinen Sinne: Es gibt Systeme mit der Fähigkeit, Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt.“ (1993, S. 31)

Hier ist die Rede vom Vermögen, eine Unterscheidung vorzunehmen, und zwar die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Beziehungen. Systeme, die man als selbstreferentiell bezeichnet, nehmen also diese Differenz von außen und innen wahr.

Selbstreferenz bezeichnet eine bestimmte Operationsweise eines Systems. Bei dieser Operationsweise kann es nur zu Umweltkontakten kommen, wenn die Reproduktion der Einheit des Systems gewährleistet ist.

Man kann also sagen, daß sich das System selbst zum Maßstab macht im Hinblick darauf, ob eine Operation als geeignet angesehen wird oder nicht. Begrenzungen und Möglichkeiten ergeben sich aus der Umwelt. Diese können allerdings nur durch Selbstbezug zum Vorschein treten. Der Bezug, den ein System zu seiner Umwelt hat, wird also durch „die Gesetzmäßigkeiten der autonomen Operationsweise des Systems“ (vgl. WILLKE 1991, S. 193) bedingt. Grenzen und Möglichkeiten kommunikativer Beeinflussung werden somit von der Umwelt vorgeprägt, innerhalb des jeweiligen Systems wird jedoch der konkrete Umgang mit den Vorgaben durch die interne Selbstorganisation vollzogen.

Die Umwelt bietet Möglichkeiten; das System selbst bestimmt jedoch, welche dieser Möglichkeiten angenommen wird. Dieses Faktum bezeichnet die innere Geschlossenheit des Systems. Von außen bzw. von der Umwelt können lediglich Angebote gemacht werden. Hier zeigt sich die Autonomie eines selbstreferentiellen Systems: Kein Einfluß von außen auf das System kann so getätigt werden, daß er zwangsläufig der Intention des Beeinflussenden nachkommt. Allein das System entscheidet durch interne Operationen, in welcher Weise der Impuls von außen verarbeitet wird. An diesem Punkt kommt das Problem der Kontingenz – der Nichtnotwendigkeit – ins Spiel. Für das eine System bedeutet Kontingenz Freiheit, da die Unterschiedlichsten Möglichkeiten der Reaktion zur Disposition stehen. Für das andere System jedoch bewirkt sie eine Erwartungsunsicherheit. Richten zwei Systeme Erwartungen aneinander, so ergibt sich das Problem der doppelten Kontingenz: Das jeweils andere System kann diese Erwartung erfüllen – dies ist jedoch nicht zwingend notwendig. Das Problem der doppelten Kontingenz löst sich gerade durch den selbstreferentiellen Zirkel: „Ich tue was Du willst, wenn Du tust, was ich will“ (LUHMANN 1993, S. 166). Bei dieser Verbindung entsteht eine neue Einheit, die nicht auf eines der beteiligten Systeme, reduzierbar ist. Keine der beiden Systeme muß notwendig in einer bestimmten Weise reagieren. Durch die beidseitige Einschränkung wird aber Erwartbarkeit ermöglicht, die für beide Systeme Einschränkung und neue Möglichkeiten gleichzeitig bedeutet. Diese neue Einheit wird zwar in beiden Systemen als Bewußtseinsinhalt oder als Kommunikationsschema präsent sein, aber in jedem der Systeme wird vorausgesetzt, daß sie in dem anderen ebenfalls präsent ist. Auch wenn diese Situation sehr instabil ist (sie zerfällt auf der Stelle, wenn nichts weiteres geschieht), beinhaltet sie die Möglichkeit der Entstehung eines sozialen Systems.

Gerade für die Selbstreferenz gilt die bereits beschriebene Überwindung des Subjektbegriffs als letztbegründendes Element:
„Inzwischen hat sich die Szenerie jedoch abermals verändert mit der Folge, daß das Subjekt nicht mehr allein steht mit dem Anspruch, Selbstreferenz zu repräsentieren. Selbstreferenz ist nicht länger ein Privileg des erkennenden Subjekts (oder: der erkennenden Subjekte). (…) Jedenfalls verfügen alle Handlungssysteme psychischer und sozialer Integration über Selbstreferenz, und zwar in einem so fundamentalen Sinne, daß ihre einzelnen Elemente (Handlungen) überhaupt nur im Selbstkontakt, das heißt in selektiver Bezugnahme auf andere Handlungen desselben Systems, konstituiert werden können.“ (LUHMANN 1993, S. 140)

Jede Handlung knüpft also an andere Handlungen an. Wie diese Anknüpfung aussieht, hängt von der Anschlußfähigkeit der Handlung ab. Man kann sagen, daß die Erfahrung der Unreduzierbarkeit des Sozialen die Erfahrung der Selbstreferenz des Sozialen ist.

Psychische Systeme vollziehen natürlich ebenfalls Selbstreferenz; sie wird bei ihnen in Form von Bewußtsein prozessiert (1993, S. 594). In bezug auf soziale Systeme muß der Begriff Referenz etwas vertieft werden:

Referenz soll ähnlich gebraucht werden wie der Begriff Beobachtung. Es geht hierbei um eine Operation, die aus „Unterscheidung und Bezeichnung“ (1993, S. 596) besteht:

„Die Begriffe Referenz und Beobachtung, also auch Selbstreferenz und Selbstbeobachtung, werden eingeführt mit Bezug auf das operative Handhaben einer Unterscheidung. Sie implizieren die Setzung dieser Unterscheidung als Differenz. In den Operationen des Systems kann diese Setzung als Voraussetzung gehandhabt werden. Mehr als ein Operieren mit dieser Voraussetzung ist normalerweise nicht erforderlich. Man will Tee zubereiten. Das Wasser kocht noch nicht. Man muß also warten. Die Differenzen Tee/andere Getränke, Kochen/Nichtkochen, Wartenmüssen/Trinkenkönnen strukturieren die Situation, ohne daß es nötig oder auch nur hilfreich wäre, die Einheit der jeweils benutzten Differenz zu thematisieren.“ (LUHMANN 1993, S. 597)

Reflexion stellt die Unterscheidung von System und Umwelt dar. Man kann also von Selbstreferenz sprechen. Das Selbst stellt das System dar, auf das sich die selbstreferentielle Operation bezieht. Das System sieht sich selbst in Differenz zu seiner Umwelt.

„Das geschieht zum Beispiel in allen Formen von Selbstdarstellung, denen die Annahme zu Grunde liegt, daß die Umwelt das System nicht ohne weiteres so akzeptiert, wie es sich selbst verstanden wissen möchte.“ (LUHMANN 1993, S. 602)

Selbstreferenz ist notwendig auf Grund der Komplexität der Welt. Diese kann nämlich nicht widergespiegelt werden, sondern muß durch selektives Arrangieren reduziert werden. Auch die Umwelt kann nicht abgebildet werden. Allerdings ist es möglich, Differenzen im System einzurichten. Diese können auf Differenzen in der Umwelt reagieren und somit Information für das System erzeugen. Dadurch kommt es jedoch zur Notwendigkeit die Selbstreferenz einzuschränken, da sie sonst auf die Unendlichkeit der Welt hin offen wäre.

Autopoiesis

Der Begriff Autopoiesis ist zusammengesetzt aus den griechischen Begriffen „autos“ = selbst und „poiein“ = machen (vgl. MOREL 1993, S. 191). Autopoietische Systeme sind also solche, die sich „selbst machen“ können. Selbstherstellung und Selbsterhaltung sind somit Grundeigenschaften dessen, was als Autopoiesis bezeichnet wird.

Das Autopoiesis-Konzept wurde von den Biologen MATURANA und VARELA entwickelt und bezeichnet die Tatsache, daß es Systeme gibt, die sich selbst reproduzieren:

„Autopoietische Systeme sind operativ geschlossene Systeme, die sich in einer ’basalen Zirkularität’ selbst reproduzieren, indem sie in einer bestimmten räumlichen Einheit die Elemente, aus denen sie bestehen, in einem Produktionsnetzwerk wiederum mit Hilfe der Elemente herstellen, aus denen sie bestehen (MATURANA 1982, S. 58). Etwas vereinfacht ausgedrückt: ein autopoietisches System reproduziert die Elemente, aus denen es besteht, mit Hilfe der Elemente, aus denen es besteht.“ (WILLKE 1991, S. 43)

Nicht alle autopoietischen Systeme sind jedoch gleicher Art. Vielmehr gibt es auch unter diesen Systemen verschiedene Klassen. LUHMANN nennt Sinn als das Unterscheidungskriterium:

„Zum Beispiel sind soziale Systeme und psychische Systeme gleich insofern, als sie Systeme sind. Es mag aber auch Gleichheiten geben, die nur für Teilbereiche einer Vergleichsebene gelten. Zum Beispiel lassen sich psychische und soziale Systeme, nicht aber Maschinen und Organismen durch Sinngebrauch charakterisieren.“ (1993, S. 18)

Hier läßt sich die Abgrenzung zu den Ansätzen MATURANAS und VARELAS aufzeigen: Soziale Systeme operieren mit Sinn. Organismen tun dies nicht. Für die Beschreibung der Autopoiesis sozialer Systeme ist also eine eigene Theorie notwendig, um dem unterschiedlichen Gegenstandsfeld gerecht zu werden.

Die allgemeine Systemtheorie ist also gemeinsame Basis der verschiedenen systemtheoretischen Bereiche. Will man jedoch Sozialsysteme als selbstreferentielle Systeme betrachten, so muß man sich zunächst mit dem grundlegenden Begriff Sinn auseinandersetzen: Sinn tritt immer bezogen auf ein System auf. Er bezeichnet die systemspezifischen Kriterien, nach welchen Passen und Nicht-Passen (im Bezug auf das System selbst) abgewogen wird. Zwischen Systemen sind Interaktionen und Kommunikationen nur durch deckungsgleiche Sinn-Inhalte möglich. Sinn kann sich in Normen, Werten, Rollen etc. manifestieren. Im Laufe von Interaktionen bzw. Kommunikationen kann er aber auch neu entstehen. Jeder Mensch muß sich an Sinn orientieren, ihn produzieren oder einfach prozessieren. Allerdings ist das psychische System nicht das einzige, welches mit Sinn operiert. Gleichermaßen tut es das soziale System. (vgl. WILLKE 1991, S. 193)

„Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im Blickpunkt, im Zentrum der Intention, und anderes wird marginal angedeutet als Horizont für ein Und-so-weiter des Erlebens und Handelns. Alles, was intendiert wird, hält auch die Aktualität der Welt in der Form der Zugänglichkeit.“ (LUHMANN 1993, S. 93)

„Jede Sinnintention ist selbstreferentiell insofern, als sie ihre eigene Wiederaktualisierbarkeit mitvorsieht, in ihrer Verweisungsstruktur also sich selbst als eine unter vielen Möglichkeiten weiteren Erlebens und Handelns wieder aufnimmt.“ (a.a.O., S. 95)

Nur durch Sinn ist also die Reproduktion der Elemente psychischer und sozialer Systeme möglich. Sinn ermöglicht die Anschlußfähigkeit an vergangenes Handeln oder vergangene Kommunikation und zeigt gleichzeitig neue Möglichkeiten auf, die jedoch eine Selektion aus der Unendlichkeit der Möglichkeiten darstellen. Sinn verweist also zunächst auf eine Vielzahl von Möglichkeiten, stellt aber gleichzeitig eine Auswahl aus diesen dar.

Mit Hilfe von Sinn kann die Komplexität der Umwelt durch das System reproduziert werden, ohne daß die gesamte Komplexität präsent sein muß:

„Die Besonderheit psychischer und sozialer Systeme liegt darin, daß sie einen Grad von Eigenkomplexität und Umweltdifferenzierung erreicht haben, der ihnen die Bildung interner Außenweltmodelle und mithin aufgrund interner reflexiver Prozesse Selbstbewußtsein und die Thematisierung der eigenen Identität ermöglicht.“ (WILLKE 1991, S. 31)

Die Außenweltmodelle sind zwar nicht gleich der Umwelt, sie stellen jedoch die Voraussetzung für das System dar, sich in der Umwelt zurechtzufinden.

Systeme mit temporalisierter Komplexität

Bei Systemen, die nicht durch dauerhafte Elemente gebildet werden, wird die Notwendigkeit von Autopoiesis in besonderer Weise deutlich. In Systemen mit instabilen Elementen ist eine ständige Selbstreproduzierung unumgänglich: Ein soziales System ist ein System, dessen Elemente nicht auf Dauer gestellt sind. Jede Kommunikation vergeht sofort wieder, wenn sich nicht weitere Kommunikation daran anschließt. Eine Gruppe zum Beispiel ist dann keine Gruppe mehr, wenn die Kommunikation der Gruppenmitglieder aufhört. Die Elemente dieses Systems sind Kommunikationsereignisse. Durch Autopoiesis werden diese Elemente reproduziert, jedoch nicht im Sinne einer identischen Reduplikation, sondern im Anschluß an die vorhergehenden Elemente.

Eine Beziehung ist als soziales System somit beständig auf anschlußfähiges kommunikatives Handeln angewiesen. Autopoiesis ist das Neuhervorbringen anschlußfähiger Kommunikation. Hierin zeigt sich aber auch die Instabilität dieses Systems, denn Autopoiesis ist ständig erforderlich, damit überhaupt noch von einem System die Rede sein kann:

„Dies soziale System gründet sich mithin auf Instabilität. Es realisiert sich deshalb zwangsläufig als autopoietisches System. Es arbeitet mit einer zirkulär geschlossenen Grundstruktur, die von Moment zu Moment zerfällt, wenn dem nicht entgegengewirkt wird.“ (LUHMANN 1993, S. 167)

LUHMANN sieht gerade in der Erforschung der temporalisierten Komplexität den Beitrag der Soziologie zur allgemeinen Systemtheorie, da diese ständige Zerfallseigenschaft eine spezielle Eigenart sozialer und psychischer Systeme darstellt. In Systemen mit temporalisierter Komplexität wird die Notwendigkeit von Autopoiesis besonders deutlich. Gerade die Instabilität der Elemente macht eine ständige Neuschaffung unerläßlich.

Interpenetration von Systemen

Das sich Durchdringen verschiedener autopoietischer Systeme bezeichnet LUHMANN als Interpenetration. (a.a.O., S. 296)

Autopoiesis geschieht in sozialen Systemen dadurch, daß Kommunikation weitere Kommunikation auslöst. Auch bei psychischen Systemen gibt es diese geschlossene Reproduktion, allerdings schließt dort Bewußtsein an Bewußtsein an. Soziale Systeme können ihre Reproduktion nur fortsetzen, wenn menschliches Leben und Bewußtsein ebenfalls ihre Reproduktion fortsetzen. Ausschließlich in operativer Geschlossenheit des jeweiligen Systems ist jedoch die Selbstreproduktion von Leben bzw. von Bewußtsein möglich. Autopoiesis ist damit nur unter Umweltbedingungen möglich. Eine solche Umweltbedingung ist für das Bewußtseinssystem die Gesellschaft, für die sozialen Systeme ist es u.a. das psychische System usw.

Geschlossenheit und Offenheit der verschiedene Systeme schließen sich also nicht gegenseitig aus, sondern sie stehen vielmehr in einem Bedingungsverhältnis. Das soziale System, das Leben und Bewußtsein voraussetzt, ermöglicht ebenfalls die Autopoiesis dieser anderen Systeme. Es ermöglicht nämlich, daß sich diese in einem geschlossenen Reproduktionszusammenhang ständig erneuern (LUHMANN 1993, S. 297). Dabei ist es nicht notwendig, daß das psychische System und das organische Leben sich dessen „bewußt“ sind. Die Autopoiesis dieser beiden Systeme muß jedoch so eingerichtet sein, daß die Geschlossenheit letztlich zu Offenheit dienen kann.

Interpenetration ist nur möglich, wenn sie verschiedene Arten von Autopoiesis miteinander verbinden kann. Voraussetzung für diese Verbindung ist Sinn: „Sinn ermöglicht das Sichverstehen und Sichfortzeugen von Bewußtsein in der Kommunikation und zugleich das Zurückrechnen der Kommunikation auf das Bewußtsein der Beteiligten.“ (ebd., S. 297)

Sinn kann als ein Prozessieren nach Differenzen bezeichnet werden. Man kann desweiteren sagen, daß Sinn selbst ein selbstreferentielles System darstellt (ebd., S 101). Bei diesem Prozessieren ist es nämlich notwendig, daß eine Offenheit nach außen besteht, für die jedoch eine innere Geschlossenheit Voraussetzung ist. Sinnsysteme können „Sinnangebote“ von außen annehmen oder nicht. Die äußeren Einflüsse werden vom Sinnsystem also selbst verarbeitet. Das Sinnsystem entscheidet selbst, was es daraus „macht“ – mit anderen Worten, ob es das Äußere in seine eigene Autopoiesis mit einbaut.

Aber selbst wenn das Sinnsystem dies macht, gibt es keine direkte Manipulationsmöglichkeit von außen. Dem System bleibt es nämlich immer noch freigestellt, wie der Einfluß von Außen aufgenommen wird. Der von außen hinein gegebene Sinn kann intern nämlich auch als „Anti-Sinn“ (im Sinne der Intention von außen) eingebaut werden.

Das sind Erfahrungen, die man in der Alltagswelt häufig macht: Man teilt jemandem etwas als äußerst wichtig mit; den anderen interessiert dies aber nicht oder er deutet diese Mitteilung sogar ins Gegenteil um. Besonders bei Kindern zeigt es sich oft, daß man ihnen etwas erklärt, sie dem Erklärten aber eine völlig andere Bedeutung geben. Solche Erlebnisse werden in unserer Alltagswelt dann Unverständnis oder Mißverständnis genannt. Im Sinne der Theorie selbstreferentieller Systeme muß dies folgendermaßen beschrieben werden: Im Sinnsystem des zuhörenden psychischen Systems ist nicht die gleiche Anschlußfähigkeit vorhanden wie im mitteilenden System. Das Sinnsystem des Zuhörers prozessiert Sinn durch Selbstreferenz und Autopoiesis, also in einer inneren Geschlossenheit, die offensichtlich stark abweicht von dem, was im Sinnsystem des Erzählenden prozessiert wird.

Die Unterschiedlichkeit von Deutungen kann mit dieser Theorie gut aufgezeigt werden: Es gibt in menschlichen Beziehungen mehrere Sinnsysteme. In einer pädagogischen Beziehung hat der Pädagoge ein anderes Sinnsystem als der Klient. Ein drittes Sinnsystem verbindet die beiden, da es der Beziehung als sozialem System zuzurechnen ist. Keines der beteiligten Systeme hat die gleiche Genese, deshalb wird jedes Sinnangebot in einem anderen Sinnsystem einen anderen Zusammenhang bilden.

Durch das Konzept der selbstreferentiellen Systeme wurde eine Wende in der Systemtheorie vollzogen: Es geht nun bei der Analyse eines Systems nicht mehr um eine Einheit, die ganz bestimmte Eigenschaften zeigt; es geht nun vielmehr darum, ob die Reproduktion von Elementen des Systems durch „relationales Arrangieren“ weitergeht oder nicht. Wenn es um die Erhaltung des Systems geht, ist damit die „Erhaltung der Geschlossenheit und Unaufhörlichkeit der Reproduktion von Elementen, die im Entstehen schon wieder verschwinden“ (a.a.O., S. 86) gemeint.

Autopoiesis ist somit zum Zentralbegriff geworden, der immer mit einbezogen werden muß, wenn von sozialen Systemen die Rede ist.

Zusammenfassung

Neben der Einführung der speziellen Begrifflichkeit wurde die Unterscheidung zwischen sozialem und psychischem System vollzogen. Beide prozessieren zwar mit Sinn; innerhalb einer menschlichen Beziehung muß allerdings zwischen drei beteiligten Sinnsystemen unterschieden werden. Es handelt sich um zwei psychische Systeme (Person a – Person b) und um ein soziales System, das die Beziehung darstellt. Keines der beteiligten Systeme ist jedoch auf ein anderes System zurückführbar. Die verschiedenen Systeme interpenetrieren sich – sie verändern sich wechselseitig in einer gemeinsamen Co-Evolution durch die jeweilige Anschlußfähigkeit. Keines der Systeme kann dabei aber direkt auf das Sinnsystem des anderen Systems Einfluß nehmen, es bietet jedoch Sinnangebote an.

Die Systemtheorie zeigt Möglichkeiten und Grenzen kommunikativer Beeinflussung gleichzeitig auf:

Durch Kenntnis und Anteilnahme am Sinnsystem des anderen kann die Anschlußfähigkeit erhöht werden. Kommunikation kann also dadurch verbessert werden, daß die „Sprache“ des Gegenübers und weniger die eigene „Sprache“ benutzt wird. Die Kenntnis der möglichen Anschlußfähigkeit kann sowohl didaktisch genutzt werden, um Inhalte zu vermitteln, als auch für den Identitätsfindungsprozeß des anderen sensibel machen.

Die Grenzen des Machbaren werden dabei deutlich: das Sinnsystem eines anderen kann nur ansatzweise antizipiert werden. Wollte man alle Zusammenhänge verstehen, müßte man alle Lebensereignisse nachvollziehen, die sich innerhalb der gesamten Existenzspanne ereignet haben. Durch die operative Geschlossenheit des anderen sind die Grenzen des Möglichen vorgezeichnet. Das System selbst entscheidet, wie es reagiert – selbst wenn es von außen noch so widersinnig erscheint: in seinem Sinnsystem macht es Sinn! Intern besteht also  immer Anschlußfähigkeit.

Literatur:

LUHMANN, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen
Theorie. Frankfurt a.M. 1993.
MATURANA, Humberto R.: Erkennen. Die Organisation und
Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig 1982.
MATURANA, Humberto R. / VARELA, Francisco: Der Baum der
Erkenntnis. Bern 1987.
MOREL, Julius et al.: Soziologische Theorie. Abriß der
Ansätze ihrer Hauptvertreter. München 1993.
WILLKE, Helmut: Systemtheorie. Stuttgart, New York 1991.

Psychopharmaka: Geschäft ohne Gewissen

„We teach our kids, we tell them, ’say no to drugs‘. And yet we give them some of the most powerful, mind altering stimulants that you can imagine, with very little education. And I think that’s criminal.“

Copyright by CCHR

see also https://radiob.wordpress.com/2009/02/25/ritalin-boomt-8x-absatz-in-einem-jahrzent/

Arbeit – Bedrohung oder Quelle der Gesundheit?

Arbeit – Bedrohung oder Quelle der Gesundheit?

Die Beziehung von Arbeit und Gesundheit ist uns vor allem aus einer Perspektive vertraut: Belastende Arbeitstätigkeiten und -bedingungen können unsere Gesundheit beeinträchtigen und Krankheiten verursachen. Die Diskussion krankt aber verbreitet an einem eingeschränkten Blickwinkel: Zum einen wird Arbeit hauptsächlich von ihrem gesundheitsschädigenden Potential her betrachtet, zum andern liegt oft ein wenig reflektiertes Verständnis von Gesundheit vor, das einseitig nach Ursachen von Krankheiten sucht. Spätestens seit den Befunden einer massiven Bedrohung der Gesundheit durch den Skandal der Arbeitslosigkeit stellen sich neue Fragen: Was erhält Menschen eigentlich gesund? Welches sind sozusagen „Ressourcen“ von Gesundheit? Und: Gehört zu diesen Ressourcen nicht auch unsere tägliche Arbeit?

By Ueli Kraft *

Wer arbeitet, kennt die beiden Seiten: Arbeit kann bereicherndes Tun sein, das unserem Leben Sinn gibt – sie kann aber auch eine Last sein. Den Aspekt der Sinnstiftung hat der Schriftsteller Ludwig Hohl auf den Punkt gebracht: Er nennt Arbeiten ein eigenes Tun, zu dem uns nicht fremde, äussere, sondern innere Gewalten nötigen, »das einzige, was Leben gibt, was retten kann« (1944). Und Max Frisch formuliert: »Erst in Zeiten, wo die Arbeit uns wieder verlassen hat, zeigt es sich deutlicher, warum man, wenn irgend es geht, überhaupt arbeitet; es ist das einzige, was uns am Morgen, wenn man jäh und wehrlos erwacht, vor dem Schrecken bewahrt; was uns in dem Labyrinth, das uns umgibt, weitergehen lässt; es ist der Faden der Ariadne.« (1950). Hier wird Arbeit als eigentlichste Lebensäusserung verstanden, als Verwirklichung und Weiterentwicklung des Menschen – ausgeprägt in der Form einer meditativen Versenkung in eine Tätigkeit, das selbstbestimmte und zugleich selbstvergessene Einswerden mit ihr und der Welt, wie wir es aus dem Umfeld etwa des Zen-Buddhismus kennen. Aber auch unsere Kultur liefert entsprechende Beispiele: Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen bewahrt Bilder und Gerüche einer Sattlerwerkstatt im Dorf meiner Grosseltern: die offene Tür zur Werkstatt, der kleine Bach vor dem Haus, auf der Schwelle spielende Kinder, der gottesfürchtige Mann bei seiner Arbeit, ruhig und stetig. Diese Verschränkung von Arbeiten, Leben und Wohnen gerät uns natürlich leicht zur Idylle. Die Idealisierung solchen Arbeitens ist aber Symptom, sie kennzeichnet insbesondere auch „Aussteiger“, die in „Alternativbetrieben“ wirklich vieles auf sich nehmen, um selbstbestimmt arbeiten zu können.

Diesem Ideal gegenüber liegt ein durch Fremdbestimmung und Zwang geprägtes Arbeiten. Für die extremste Form mögen die Pyramiden, die Grosse Mauer in China, Kanäle und Bahnlinien in Sibirien stehen. Sie wurden nicht von Despoten erbaut, sondern von Heeren von Sklaven, Verurteilten oder Unterdrückten, die bis zum Umfallen schuften mussten. »Arbeit macht frei« stand als zynisches Memento über dem Eingangstor von Auschwitz. – Aber auch die Gegenwart kennt genügend Beispiele: Die Arbeiter in den Minen Südafrikas, auf den Plantagen Mittel- und Südamerikas, zeitweise auch die Emigranten auf den Baustellen Europas riskieren – fern von ihren Familien – nach wie vor ihre Gesundheit in Arbeitsverhältnissen, die nur jemand eingeht, den die nackte Not dazu zwingt. Solche Gegebenheiten sind verbunden mit der Leistungsgesellschaft, die die Arbeit nach Macht und Besitz organisiert. Im Zuge der Industrialisierung haben sich die seit jeher bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Herrschenden und Untertanen in solche zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gewandelt. Und aus dem »liberté, égalité, fraternité«, das noch heute die französischen Münzen ziert, hat die bürgerliche Gesellschaft ein „freie Bahn dem Tüchtigen“ gemacht – im so genannten „freien“ Markt fressen die Stärkeren die Schwächeren nicht nur gnadenlos, sondern auch noch in der Überzeugung eigener Tüchtigkeit. Und wer arm ist, ist selber schuld, dass er schweisstreibende Arbeit verrichten muss. Die Fremdbestimmung in der Arbeit, die Trennung von Kopf und Hand erfährt heute durch die zunehmende Überführung menschlichen „Produktionswissens“ in die Maschinen eine neue Blüte. Und vielerorts steckt hinter diesen Bemühungen die technokratische Vision menschenentleerter Produktionshallen.

Wo unsere Arbeit auf der Achse zwischen selbstbestimmtem Wollen und fremdbestimmtem Sollen zu liegen kommt, hängt unter den gegenwärtig gegebenen Verhältnissen von verschiedenen Faktoren ab – von unserer sozialen Herkunft, vom Geschlecht, vom Bildungsstand, von der Wirtschaftslage, von regionalen Besonderheiten des Arbeitsmarktes. Schon bei der Berufswahl steht dem Versprechen einer Selbstverwirklichung im Beruf der zeitweilig barsche Wind der Arbeitswelt gegenüber, die Zuweisungen nach ihren Bedürfnissen vornimmt. Die Rollen, die angeboten werden, werden von den einen bewusst und gerne gewählt, von anderen unter Zwängen und nur zögernd „geschluckt“. Und: Die einen können ihre Arbeit als wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität verstehen, den anderen bleibt sie fremd und äusserlich.

Gesundheit: Zustand oder Prozess?

Unser Alltagsverständnis von Gesundheit orientiert sich zwar weitgehend an der Abwesenheit von Krankheitssymptomen, schliesst aber über soziales und psychisches Befinden die Ahnung ein, dass die Sache etwas komplizierter sein dürfte – eine Einsicht, die auch in der Wissenschaft langsam Fuss fasst. Die ursprünglich unterschiedlichen Zugänge der Medizin, der Biologie und der Psychologie verdichten sich seit einigen Jahren zu einer „ökologischen“ Sichtweise, die das technokratische Denken vieler Schulmediziner zu relativieren versucht. Der Grundgedanke liegt darin, dass wir potentiell krankmachenden Belastungen der physikalischen, biologischen und sozialen Umwelt eigentlich dauernd ausgesetzt sind, und es stellt sich die Frage, wie und womit wir diesen begegnen können. Es handelt sich nach diesem Verständnis um ein – gelingendes und misslingendes – Wechselspiel zwischen den die Gesundheit bedrohenden Faktoren und Schutzmechanismen. Gesundheit ist damit nicht einfach da, sie muss von uns sozusagen immer wieder hergestellt werden.

Wo wir Gesundheit nicht mehr lediglich körperlich verstehen, müssen wir nach den verschiedenen Faktoren fragen, die uns helfen, gesund zu bleiben oder unsere Gesundheit wieder zu erlangen. Solche Ressourcen liegen in der Umwelt – Stichworte: saubere Luft, Wohnsituation -, in unserem eigenen Gesundheitsverhalten – Stichworte: gesunde Ernährung, Vermeidung oder Reduzierung potentiell schädigender Genussmittel und ausreichende Bewegung. Sie liegen in der Arbeit, sofern uns diese von der Sache und von der sozialen Seite her „etwas bringt“; sie liegen in uns selber, wo wir – basierend auf unserem Selbstwertgefühl und einer positiven Haltung dem Leben, den anderen Menschen, unseren Gefühlen und unserer Arbeit gegenüber – sinnvolle Strategien im Umgang mit Belastungen verfügen oder solche entwickeln können; sie liegen in den sozialen Beziehungen in der Familie, unter Bekannten und am Arbeitsplatz, wo wir auf Verständnis und Unterstützung treffen können.

Die in uns liegenden persönlichen und die sozialen Ressourcen können zusammenfassend als psychosoziales Immunsystem verstanden werden, das eng mit dem biochemischen System „zusammenarbeitet“. Wer einen Raubbau an diesen Ressourcen begeht – etwa indem Beziehungen zur Lebenspartnerin oder zum Lebenspartner nur „ausgebeutet“ und nicht gepflegt werden -, schädigt sich über kurz oder lang selber, indem wesentliche Bestandteile des so verstandenen Immunsystems geschwächt werden.

Arbeit: Belastung oder Ressource von Gesundheit?

Obwohl wir in der Schweiz eine der höchsten durchschnittlichen Lebenserwartungen haben, sind offenbar die wenigsten Menschen in einem umfassenden Sinne gesund. Die Prämien der Krankenkassen steigen und steigen; Hausärztinnen und Hausärzte sehen sich zunehmend mit psychosomatischen Störungen konfrontiert – die Psyche macht sozusagen nicht mehr mit und sucht sich in der physischen Erkrankung ein gesellschaftlich anerkanntes Mittel zur Entlastung. Das ständige Getrieben-Sein in unserer Leistungsgesellschaft zeigt mannigfache physische, psychische und soziale Folgen – wir nennen einen Teil davon Ziviliationskrankheiten: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebsleiden oder Allergien aller Art sind physische Signale dafür, dass unsere Abwehr überlastet wird; Abhängigkeiten von Genussmitteln, Drogen und Medikamenten Zeichen von untauglichen Versuchen, mit dem subjektiv als massiv erlebten Druck fertig zu werden. Eine Sinnkrise spiegelt sich in Selbstmordraten und in der Raserei auf den Strassen. Der Boom pseudo-psychotherapeutischer Angebote ist ebenso Symptom wie die rasant steigenden Umsätze mit esoterischen Schriften und Gerätschaften. Immer mehr Menschen leiden unter Depressionen, sind einsam, fühlen sich bedroht, haben Angst. Das gehetzte Funktionieren in einer technokratischen Welt geht offenbar einher mit einer emotionalen und sozialen Verkümmerung, auf Kosten von Lebendigkeit und Gelassenheit.

Nun wäre es etwas gar plump, die Produktionsverhältnisse der Wirtschaft pauschal zur allein Schuldigen zu stempeln. Aber wir können uns fragen, welche Vorkehrungen in den Betrieben getroffen werden könnten, damit nicht lediglich negative Auswirkungen der Arbeit vermieden, sondern positive gefördert werden. Die Arbeitspsychologie hätte auf beiden Seiten einiges zu bieten.

Eine lange Tradition hat die Forschung zur Belastungsvermeidung, die das Phänomen Stress mittlerweile sehr gut versteht: Wo in der Arbeitswelt Planung, Ausführung und Kontrolle einer Tätigkeit auseinandergerissen worden sind, wo in ausgeklügelten Hierarchien der eine über den anderen verfügt, wo einzelne vereinzelt „gegen“ fremdgesetzte Termine kämpfen, sind Voraussetzungen zur Entstehung von Gefühlen eines Kontrollverlustes und von Ohnmacht gegeben – unabhängig von der Persönlichkeit der Arbeitenden selbst. Als spezifische Stressfaktoren können verschiedenste Merkmale der täglichen Arbeit in Betracht kommen. Ähnlich der Formulierung des Paracelsus, wonach ein jedes Ding – je nach Dosierung – Gift oder nicht Gift ist, kann ein Zuviel einzelner oder mehrerer Belastungsaspekte Stress auslösen: Alleinsein kann sehr angenehm, Isolation hingegen sehr belastend sein. Kontakt mit Menschen zu haben, entspricht einem verbreiteten Bedürfnis, anderen nicht mehr ausweichen zu können, kann Stressreaktionen provozieren. Zeitdruck kann als Herausforderung wirken, wo wir auf die entsprechenden Faktoren keinen Einfluss haben, kann er uns lähmen. Zuwenig Bewegung ist so ungünstig wie zuviel körperliche Belastung, Unterforderung so schlecht wie klare Überforderung. Das je günstige oder erträgliche Mass variiert natürlich – wir Menschen sind halt verschieden. Die allgemein ungünstigen gesundheitlichen Auswirkungen solcher Belastungen in Kombination mit geringen bis fehlenden Kontrollmöglichkeiten sind durch die Forschung aber hinreichend belegt. Die Arbeitspsychologie hat auf solche Ergebnisse mit Versuchen geantwortet, auf die Gestaltung von einzelnen Arbeitsaufgaben und ganzen Organisationen einzuwirken. Vielerorts hat dies auch bewirkt, dass solche Belastungen allgemein reduziert worden sind – ganze Berufsgruppen oder bestimmte Funktionen leiden aber nach wie vor darunter, dass hohen Anforderungen mittels geringsten Spielräumen und Entscheidungsbefugnissen genügt werden soll.

Die Möglichkeiten einer Gesundheitsförderung durch die Betriebe erschöpfen sich nicht in gutgemeinten Aktionen wie Gymnastik vor den Bildschirmen. Nach dem oben skizzierten Verständnis von Arbeit hätten Arbeitspsychologie und Betriebe Möglichkeiten, die aus ihren eigentlichen Feldern stammen und die so neu gar nicht sind. Konzepte zur Motivationsförderung, zur persönlichkeitsförderlichen Gestaltung von Arbeitstätigkeiten und zur Förderung eines sozial unterstützenden Arbeitsklimas können auch als Konzepte zur Erhaltung der Gesundheit verstanden werden. Die Arbeit birgt in sich ja auch das Versprechen, dass wir davon etwas haben könnten: Befriedigung, Selbstbestätigung, Anregung zur Weiterentwicklung unserer Persönlichkeit. Arbeit kann dann Ressource sein, wenn sie unseren Fähigkeiten entspricht und diese auch steigert, wenn sie sozusagen „ganzheitlich“ ist, das heisst, wenn wir selber planen, ausführen und kontrollieren können, wenn wir Entscheidungen selber treffen oder mitbestimmen können, wenn wir mit anderen Menschen kooperieren können – die aufgezählten Punkte entsprechen alten Forderungen der Arbeitspsychologie. Solche Arbeit „schütteln wir nicht aus dem Ärmel“, sie fordert uns heraus und strengt auch an. Aus der Motivationsforschung wissen wir, dass so erbrachte Leistungen uns – direkt über die Sache selbst und indirekt über soziale Anerkennung – belohnen, unser Selbstwertgefühl stützen und steigern.

Wir sehen also: Fremdbestimmte, uns „äusserlich“ bleibende Arbeit kann zwar so gestaltet werden, dass die damit verbundenen Belastungen erträglich bleiben und zu keinen Beschwerden führen. Viele Menschen haben sich in derartigen Arbeitsverhältnissen arrangiert und geben sich damit auch leidlich zufrieden. Damit Arbeit aber auch Ressource von physischer, psychischer und sozialer Gesundheit und von wirklichem Wohlbefinden sein kann, muss mehr gegeben sein: Zum einen Möglichkeiten, die Arbeitssituation nach eigenen Vorstellungen zu beeinflussen – formulieren wir es ruhig als Selbst- oder Mitbestimmung über Ziele und Wege; zum anderen soziale Unterstützung – sei es in Form direkter Hilfen oder als emotionale Stütze. Erst dann kann sie das werden, was sie potentiell sein kann: Ansatzpunkt persönlicher Entwicklung, zentrale Stütze unserer Identität, Sinnstiftung in unserem Leben, der Faden der Ariadne…

Arbeit zur Ressource machen!

  • Arbeit ist nicht an sich beglückend oder mühsam. Was und wie wir arbeiten, ist durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse in mehr oder minder grossem Masse mitgeprägt. Selbstverwirklichung und Fremdbestimmung stehen zwar als Endpunkte einer Skala, beide sind aber in unterschiedlichsten Kombinationen miteinander verschränkt und bilden ein Spannungsfeld, dem die meisten von uns ausgesetzt sind. Wo die verfügbaren Berufsrollen mit unseren Interessen vereinbar sind, kann die Arbeit sinnstiftend wirken und unser Selbstvertrauen stärken. Wo diese auseinanderklaffen, kann sie fremd bleiben und äusserlich.
  • Gesundheit ist eine Leistung des ganzheitlich verstandenen Organismus: Wir sind dauernd Belastungen der physikalischen, biologischen und sozialen Umwelt ausgesetzt, die potentiell krank machen können. Diesen Belastungen begegnen wir aber mit Hilfe von Ressourcen, die in uns selber, in sozialen Beziehungen, in unserer Arbeit und unserer Umwelt liegen. Solange das biochemische und psychosoziale Immunsystem dieses Gleichgewicht aufrecht erhalten kann, stellen wir Gesundheit also immer wieder her. Wenn dies nicht mehr gelingt, werden wir krank.
  • Unsere Arbeit kann unsere Gesundheit belasten oder fördern. Wo sie uns entfremdet wird, unsere Bedürfnisse nicht befriedigt, uns auslaugt und subjektiv als nicht mehr zum eigentlichen Leben gehörig empfunden wird, fehlt sie nicht nur als wichtige Ressource, sondern belastet unseren Organismus. Wo wir unter geringen Entscheidungsbefugnissen hohen Anforderungen genügen sollen, drohen Gefühle von Überforderung und Kontrollverlust, die zu Stressreaktionen mit potentiell ernsthaften Folgen für die Gesundheit führen können. Arbeit wird dann zur Ressource, wenn sie uns anregt, bestätigt, herausfordert und uns in diesem Sinne beweglich und „lebendig“ erhält. Eine sinnstiftende Arbeit trägt nicht nur zu körperlichem, sozialem und psychischem Wohlbefinden bei; sie festigt auch unsere Identität – was uns wiederum hilft, Belastungen zu bewältigen und gesund zu bleiben.

*Ueli Kraft, 1951, Psychologe, Dr. phil. Langjährige Forschungstätigkeit zu Fragen der Berufsbildung (Uni Zürich) und der Arbeitspsychologie (ETH Zürich). 1994-96 Studienleiter am Schweizerischen Institut für Berufspädagogik. Gegenwärtig: selbständige Tätigkeit in der Schulung von Lehrenden in Betrieben, Lehrwerkstätten und Berufsschulen.